Lilly und die Reise ins Reich der Magie (Teil 1)

  • von Mia (6e)

Eines Tages, an einem frühen Nachmittag, ging Lilly Rosenthal durch die Straßen ihres Dorfes. Eigentlich sollte es Sommer sein, aber davon war nichts zu merken, denn es regnete in einer Tour. Doch das machte nichts, es passte wunderbar zu ihrer Laune. Die schlechte Deutscharbeit war dabei nur die Spitze des Eisbergs. Während des ganzen Vormittags wurde sie von ihren Mitschüler:innen ausgelacht und verhöhnt. Das war nicht nur gemein, es konnte einem auch ganz schön auf die Nerven gehen.

Ihre Mutter, ein strahlender Sonnenschein auf zwei Beinen, war ihr auch keine große Hilfe. „Gib Ihnen ein bisschen Zeit. Wir wohnen hier ja erst seit ein paar Tagen. Sie müssen sich erst an dich gewöhnen, du bist halt anders als sie“, meinte sie immer. „Ja“, dachte Lilly ironisch: „Sie müssen sich erst an mich gewöhnen, natürlich!“ Sie war sich sicher, dass ihre Mutter das nur sagte, damit sie sich besser fühlte. In Wahrheit wussten sie doch beide, dass sie hier nie Freunde finden würde. Sie war einfach zu anders. Wer wohnt schon auf einem Hausboot? Ihr Vater hatte keinen festen Job, war nur am Wochenende zu Hause und verdiente nicht viel. Außerdem ließ sie sich ungern herumkommandieren. Die anderen Mädchen rannten wie ein Hund dem Stöckchen hinterher, sobald Clarissa, die in Ihrer Klasse das Sagen hatte, nur einmal mit den Fingern schnipste… nein, nicht mal ein Fingerschnipsen brauchte es. Alle versuchten ihr die Wünsche von den Augen abzulesen, damit sie sie so schnell wie möglich erledigen konnten, um bei Clarissa die Nummer eins zu sein. Letztens war ein Mädchen total ausgerastet, nur weil sie neben Clarissa sitzen durfte. Und sowas sollte sie auch machen? Nein danke! Ihr Bruder benahm sich doch auch nicht so und trotzdem hatte er keine Probleme. Jeder mochte ihn. Was machte er denn anders? Wenn sie sich erst verstellen musste, um Freundschaften zu schließen, war es dann nicht besser, keine zu haben? Ihre Mutter sagte immer: „Willst du echte Freunde haben, dann sei du selbst.“

So lief sie tief in Gedanken, schon pitschnass vom Regen, durch die Gassen ihrer neuen Heimat, als ihr plötzlich etwas sehr Merkwürdiges ins Auge sprang. Zwischen den Häusern, die mit Lichterketten und maritimer Deko verziert waren, befand sich ein kleiner Laden. An sich war es nichts Außergewöhnliches. Hier gab es überall kleine Lädchen, die Souvenirs verkauften oder bei denen man Waveboards ausleihen konnte. Und dennoch stach dieses Geschäft auf eigentümliche Weise besonders heraus.
Alt und abgenutzt sah das Gebäude aus. Die Fensterläden waren an manchen Stellen kaputt und auch am Haus selbst schien viel beschädigt zu sein. Außerdem war es das einzige Haus in dieser Gegend, das fast ausschließlich aus Holz gebaut und mit einem Reetdach bedeckt war. Man würde nicht erkennen, dass es sich hier um einen Laden handelt, wenn nicht ein halbverwittertes Schild darauf hinweisen würde. “Das ist ja komisch“, dachte Lilly: „Wer kauft denn hier ein? Was verkaufen sie hier eigentlich oder ist es doch kein Laden? Vielleicht ist das Haus verlassen.“

Neugierig ging sie näher heran, als sie eine Gestalt entdeckte, die geradewegs auf sie zuging. Es war Clarissa, ausgerechnet die. Sie warf ihr langes blondes Haar von einer Seite auf die andere. „Na, guckst du dir die Gärten an? Kannst du aber auf einem Hausboot nicht haben. Für ein richtiges Haus ist deine Familie wohl zu arm.“ Beschämt blickte Lilly zur Seite und schabte mit dem Fuß auf den Steinen des Weges. Aber Clarissa war noch nicht fertig. „Ich komme gerade aus dem teuersten Café der Stadt, wo ich meine Freundinnen getroffen habe. Das solltest du auch mal machen. Ach, ich vergaß, du hast ja keine Freunde.“ Den letzten Teil sagte sie betont mitleidig und lachte hämisch. „Dazu fällt dir nichts ein, hm? Mit dir kann man echt nichts anfangen!“ Sie verdrehte die Augen, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon. Mit ungeheurer Wut im Bauch, stampfte Lilly auf. Sie wollte sie anschreien, ihr irgendetwas hinterherrufen, etwas Schlagfertiges oder Schlaues, sich wehren, aber sie konnte nicht. Sie traute es sich einfach nicht. 

Lisbeth hatte den Streit der beiden Mädchen vom Fenster aus beobachtet. Ihr Entschluss war in dem Moment gefallen, als sie Lillys wutverzerrtes Gesicht sah. Sie öffnete ihre Tür und sprach sie an. „Komm herein Liebes, es regnet, du bist ja ganz nass.“ Lilly schaute sie verunsichert an: „Nein, es geht schon, vielen Dank.“ Aber Lisbeth ließ sie nicht gehen: „Ach komm schon, du erkältest dich sonst noch. Was kann dir eine alte Frau wie ich schon antun?“

Unwillig folgte Lilly ihr ins Haus. Und wieder war sie zu feige, das zu tun, was sie wollte. Stattdessen sagte sie höflich: „Vielen Dank, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.“ „Du kannst mich gerne duzen, ich heiße Lisbeth.“ „Lilly!“ antwortete Lilly schüchtern. Lisbeth schob Lilly weiter ins Haus: „Schaue dich ruhig um, während ich uns einen Tee mache.“ Mit diesen Worten verschwand sie in einem der Zimmer. Über der Tür, durch die Lisbeth gegangen war, stand in goldenen Lettern: Kochzimmer. Überhaupt sah es hier drinnen ganz anders aus, als man es von außen vermutet hätte. Lilly staunte nicht schlecht.

Sie stand in einem Flur und schaute in den Raum rechts neben sich, der laut den Buchstaben über der Tür das Lesezimmer sein musste. Dort stand nicht nur ein riesiges Bücherregal, in dem unzählige, sorgsam geordnete Bücher darauf warteten, gelesen zu werden, sondern auch ein gemütliches Sofa, das sich von einem leicht gekippten Fenster zu einer Glastür erstreckte, die in einen Garten führte. In einer Ecke stand vor einem offenen Kamin ein hübscher Sessel mit einem kleinen Tischchen, auf dem ein dicker Wälzer und eine Lesebrille lagen. „Anscheinend hatte Lisbeth darin gelesen, bevor sie durch mich und Clarissa gestört wurde“, vermutete Lilly.

Ein lautes Scheppern riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute in Richtung Küche und bemerkte ein weiteres beschriftetes Zimmer. Diesmal war es das Wohnzimmer. Anscheinend waren alle Zimmer mit Schildern versehen. „Warum beschriftet sie bloß  alle Räume in ihrem eigenen Haus? Das ist doch verrückt!“ murmelte Lilly. Ein leises Räuspern ließ sie peinlich berührt zusammenzucken. Lilly drehte sich um und vor ihr stand Lisbeth. Irrte sie sich oder zuckte es um Lisbeths Mundwinkel? Lilly spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

„Komm mit Kind, ich möchte dir etwas zeigen.“ Lisbeth überreichte ihr eine heiße Tasse Tee und führte Lilly über eine alte, knarrende Treppe ins obere Stockwerk. Hier gab es laut der Beschriftung mehrere Schlafzimmer und Badezimmer. „Erstaunlich, dass in dieses Haus so viele Räume passen“, dachte Lilly, während sie auf eine Tür zugingen, über der mit goldener Schrift „Raum für Unglaubliches“ stand. Lilly brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie unten schon irritiert hatte und nun einen merkwürdigen Sinn ergab. Jede Beschriftung beinhaltete das Wort „Zimmer“, selbst die Küche war als Kochzimmer betitelt. Nur hier oben, direkt vor ihr, besagten die Buchstaben, dass es sich um einen Raum handelt. Das wäre schon ungewöhnlich genug gewesen, aber was sollte das bedeuten, „Unglaubliches“?

„Kommst du?“ fragte Lisbeth. „Äh, ja, natürlich“, beeilte Lilly sich zu sagen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie stehengeblieben war. Mit flinken Schritten ging sie auf die Tür zu, die Lisbeth ihnen öffnete. „Setz dich ruhig“, meinte Lisbeth und deutete auf ein paar weichgepolsterte Stühle, die vor einem voll beladenen Tisch standen. Das musste man Lilly nicht zweimal sagen. Sie war so erstaunt, dass sie dankbar die Sitzgelegenheit annahm, um dort erst einmal die Eindrücke auf sich wirken lassen zu können, die diese Räumlichkeiten in ihr hervorriefen. Es waren nicht die Möbel oder Gegenstände, die sich hier befanden, sondern vielmehr die Stimmung, die in der Luft lag. Es fühlte sich befreiend, aber dennoch erdrückend an, so als ob viele Vögel ihre schönsten Gesänge anstimmten, aber doch nichts zu hören war. Als ob Delfine mit ihren Schwanzflossen aufs Wasser schlügen, aber die Tropfen nicht fröhlich zu tanzen anfingen oder als ob Blumen ihre schönsten Farben zeigten und doch nicht zu sehen waren.

Lilly sah, wie Lisbeth sie musterte, mit einem Blick, der sie geradezu zu durchleuchten schien. Ein kalter Schauer durchfuhr Lilly. Ein bisschen gruselig fand sie Lisbeth schon. Da lächelte sie schon wieder und hielt ihr wortlos eine Kette entgegen. Der Anhänger sah aus wie eine Muschel, nur das diese eine rosa und lila Färbung hatte. Und war da nicht noch etwas blau? Außerdem glitzerte sie so schön. Die Muschel sah irgendwie magisch aus und vor allem wunderschön! Doch genau das war der Grund, weshalb sie die Kette unmöglich annehmen konnte. Als Lilly noch zögerte, sie zu nehmen, flüsterte Lisbeth verschwörerisch: „Nimm und behalte sie. Du wirst sie brauchen.“ „Danke“, wisperte Lilly und ließ sich die Kette widerstandslos umlegen. Plötzlich durchfuhr sie ein Ruck und ein innerlicher Drang, so schnell wie möglich dieses Haus zu verlassen. So schnell ihre Beine sie trugen, rannte sie die Treppe hinunter und ließ Lisbeth einfach stehen. Sie lief durch den Flur, der ihr unendlich lang erschien, und erreichte die Haustür, die sich leicht öffnen ließ und direkt hinter ihr wieder ins Schloss fiel. Draußen angekommen atmete sie tief durch und es erschien ihr plötzlich völlig unsinnig, was sie gerade getan hatte. Eine Frau schenkte ihr eine Kette und sie hatte nichts Besseres zu tun, als davonzulaufen. Das war nicht nur gemein, sondern auch unverschämt unhöflich.

„Reiß dich zusammen“, ermahnte sie sich und wollte gerade anklopfen, als sie eine helle, klare Stimme vernahm: „Ach, wie schade, der Besuch geht schon.“ Eine andere, eher piepsige Stimme rief: „Tschüss, Lilly!“ „Was ist das?“ Lilly schaute sich ängstlich um. „Woher kommen die Stimmen und woher wissen sie, wie ich heiße, verflucht nochmal.“ Das wurde immer verrückter. Und als eine dritte Stimme: „Hoffentlich sehen wir uns bald wieder!“ rief, wusste sie es plötzlich. „Aber das kann doch nicht…,“dachte sie verzweifelt. Es war aber eindeutig. Die Stimmen gehörten zweifelsohne zu den Vögeln in diesem Garten. Das war zu viel für sie. Fluchtartig verließ sie das Grundstück, raus aus dieser Irrenanstalt. Sie rannte die Straße hinunter und irrte durch das Dorf, bis sie völlig aus der Puste zu Hause ankam. Obwohl ihre Hände so zitterten, dass sie kaum den Schlüssel ins Schloss bekam, schaffte sie es irgendwie ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu und rannte hoch in ihr Zimmer.

Mitten in der Nacht wachte sie auf. Ihr Herz raste. Der Schrecken saß ihr immer noch in den Knochen. „Was war das für ein Traum?“ fragte sie sich. Sie hatte gesehen wie Clarissa entführt worden war. Von schwarzen Wesen wurde sie aus ihrem Haus getragen und während sie um sich schlug in eine riesengroße Kastanienhülle gelegt, die aussah wie eine stachelige Kutsche. Clarissa versuchte um Hilfe zu rufen, doch aus irgendeinem unerklärlichen Grund gelang es ihr nicht. An einem schwarzen Gebäude, das im Dunklen eher einem Verlies ähnelte, blieb die Kutsche stehen. Clarissa wurde von den Wesen in ein Gewölbe gebracht, das aus einem mit Wasser überzogenen Stein zu bestehen schien. Dort wurde sie in eine Zelle gesperrt, die so aussah, als könne man dort nicht so leicht wieder ausbrechen. Die Wesen gaben grunzende Laute von sich und stiegen eine glitschige Wendeltreppe nach oben. Sie waren komplett schwarz und ungefähr so groß wie ein dreijähriges Kind. Und doch brauchte es nur einen von ihnen, um so jemanden wie Clarissa hochzuheben. Sie waren leicht und fein wie Nebel, und obwohl sie keine richtige Gestalt hatten, wirkten sie seltsam echt. Lilly fürchtete sich immer noch vor der gruseligen Aura, die sie umgab.

Plötzlich bemerkte sie die Kette von Lisbeth, die sie noch immer um den Hals trug. „Die habe ich wohl am Abend vergessen abzunehmen“, vermutete Lilly. Sie löste den Verschluss und verwahrte sie sicher auf ihrem Nachttisch, da überfiel sie die Müdigkeit und sie konnte trotz ihrer fürchterlichen Gedanken einschlafen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert